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From: Sandy P. Klein
Sent: Wednesday, September 10, 2003 12:15 PM
Subject: Aber «Lolita» steht auch der «Nackten Pionierin» sehr fern ...

 
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10. September 2003,  02:12, Neue Zürcher Zeitung

Pionierin, heilig und nackt

Ein Roman über die verborgene erotische Begierde Russlands

Wie wenige Bücher in den letzten Jahren hat Michail Kononows während der Perestroika verfasster, doch erst 2001 veröffentlichter Roman «Die nackte Pionierin» in Russland für Aufregung gesorgt. Die Geschichte einer 14-Jährigen, die an der Front den Soldaten zu Diensten ist, rührt an den blank geputzten Mythos des «Grossen Vaterländischen Krieges». Dabei steckt der Band voller literaturhistorischer Anspielungen.

Auf der russischen Ausgabe von Michail Kononows Roman «Die nackte Pionierin» stehen, wie so üblich, ein paar Sätze zu Werbezwecken. Merkwürdig, wie weit manches vom Buch wegführt: «Die ganze Geschichte ist der stilisierte Monolog einer Putaine des Regiments.» Der manierierte postsowjetische Euphemismus «Putaine» bezeichnet allerdings semantisch wie stilistisch das absolute Gegenteil von Motte Maria, der gerade mal 14-jährigen Soldatenbraut. Weiter steht da: «Kononow beerbt Nabokov, der wahrscheinlich den gewichtigsten Beitrag geleistet hat, um die russische Sprache der Beschreibung früher unsagbarer Vorgänge und Körperteile anzupassen.» Aber «Lolita» steht auch der «Nackten Pionierin» sehr fern, es ist sogar merkwürdig, dass beide auf diesen packpapierartigen Buchumschlag gefunden haben. Sollte es irgendwo einen vergleichbaren Beitrag zur Beschreibung des Unsagbaren geben, so am ehesten in der Dichtung von Joseph Brodsky. Was bei ihm jedoch in der Unendlichkeit der Enjambements und im Rauschen der Zeit aufgeht, das hat Michail Kononow als Triebfeder in die Handlung eingebaut.

Dieses Buch, das den Leser mit grosser Verspätung, aber keineswegs zu spät erreicht, lässt sich dabei wohl kaum den Werken zuschlagen, die sich ihrer Verwandtschaft nicht entsinnen. Es ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht, sondern aus dem turbulenten Kulturreservoir der sowjetischen «Stagnationszeit», als man sich undankbar an den Sozrealismus erinnerte, Tabus abwarf, in Ungnade gefallene Meisterwerke zurückholte, in der Sozart grimmig sich selbst verlachte und einen «Blick zurück im Zorn» auf die Vergangenheit warf. All das bildet, ob erwähnt oder nicht, den kompakten «Intertext» des Romans, es schimmert durch die Geschichte der Minderjährigen, die im Zweiten Weltkrieg in der Rolle der MG- Schützin kämpft, den Offizieren ihre Frontbegierden befriedigt und in kurzen Träumen, ganz ohne Voland'sche Zaubercrème, «strategische Flüge» vollbringt, dazu stammelt und plappert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist - eine hinreissende Figur mit Sowjetklischees und eigenem Wortwitz, mit kindlichem Wörterverdrehen und ehrlicher kindlicher Logik. Versteht sich, dass sich im Gedächtnis des Romans Reminiszenzen an beliebte sozrealistische Werke finden: der ausdrücklich erwähnte «Timur und sein Trupp» von Arkadi Gaidar und der nicht erwähnte «Sohn des Regiments» von Walentin Katajew; der ins Schulprogramm der Nachkriegszeit eingegangene Rat der Partisanin Soja: «Gib keinen Kuss ohne Liebe», bei Kononow groteskerweise zu der fixen Idee seiner «Regimentsbraut» geworden, Kinder kämen vom Küssen.

Mir kommt dabei noch Swetlana Alexijewitschs Buch «Der Krieg hat kein weibliches Gesicht» in den Sinn: unser Schock aufgrund der ungekünstelten Erzählungen ehemaliger Frontsoldatinnen, noch potenziert durch den Dokumentarfilm des weissrussischen Regisseurs Ptaschuk. Der vom Krieg versehrte Alltag dieser jungen Mädchen mit so antimilitaristischen Problemen wie Menstruation und BH-Wäsche, mit ihren Frontliebschaften in Anwesenheit und unter Beteiligung des Todes - das war ein unbekannter Aspekt des Krieges. Ähnlich den KZ-Häftlingen empfanden diese Frauen Scheu vor ihrer (im Grunde «heldenhaften») Vergangenheit. Denn in der Nachkriegszeit wurden sie bald abschätzig als «MFF» bezeichnet, als «Marsch- und Feld-Frau». Die Komsomolzin, die sich freiwillig meldete, um einen Deserteur zu erschiessen, landete allerdings im Irrenhaus. Motte sollte das im Übrigen nicht mehr erleben, da hatte sie schon eine feindliche Kugel zwischen die Augen bekommen.

Es gab natürlich auch Sozart. Als Verwandter der «Pionierin» fällt einem nicht nur zuallererst Woinowitschs «Tschonkin» ein, sondern auch der denkwürdige Bilderzyklus «Nostalgischer Sozrealismus» von Komar und Melamid, den Patriarchen des Genres: Er rückt den Kult um den Führer anschaulich in den Schoss verborgener erotischer Begierden der Nation. Wie der Herausgeber Wiktor Toporow im Vorwort «Der russische Mensch beim Rendez-vous mit dem Tod» zu Recht bemerkt, tun sich heute hinter dem leicht abgeblassten Entlarvungspathos «existenzielle Abgründe» auf. «Kononows Helden treten an zum Rendez-vous mit der abgegriffenen, zerzausten Motte, bevor sie in ein Rendez-vous mit dem Tod geraten.» Hinter diesen Abgründen taucht, fast aus dem Nichts, das in der russischen Literatur zutiefst durchlittene Phänomen von Bulgakows Roman «Der Meister und Margarita» auf, den Kononow zitiert und parodiert, sowie die Prosa von Platonow mit ihrer merkwürdig geschlechtslosen Erotik, ihrer genial gesetzlosen Syntax und einem so auf Einzelpersonen fixierten Gemeinschaftsgefühl, dass jede der Figuren sagen könnte: Ohne mich ist das Volk nicht vollständig.

Auch die «Pionierin» war lange in Quarantäne, bis tief hinein in postsowjetische - eigentlich zensurlose - Zeiten. Aber schliesslich: «Hallöchen, lange nicht gesehen, alles halb so wild, Schwamm drüber, Genossen.» Doch ist das nicht einfach eine Grimasse der Geschichte. Es mussten Jahre vergehen und neue Generationen kommen, die nicht mehr im Sinn haben, dass es sich um einen «vaterländischen» Krieg gehandelt hatte und dass er gegen den Faschismus gerichtet war. Er musste wegrücken und einfach zum «Krieg» werden, wenn nicht in den Schulbüchern, so emotional.

Über ein Buch zu sagen, es handle vom Krieg, damit war einst alles gesagt und später gar nichts; heute, in einer Epoche der Kriege und des Terrors, bedeutet es wieder viel: Zynismus und «alles ist erlaubt». Motte hat indes alles, was sie erlebt hat, im Krieg erlebt; sie hat alle möglichen «Archetypen» verkörpert (Braut, Muttergottes, Hexe, Walküre), hat unerwünschte Sexualbeziehungen, unerwiderte Liebe zur Heimat und sogar einfach Liebe erfahren. Mag der Autor auch alles mit Säure verätzt haben, kann er ihr doch nicht die verdiente Apotheose nehmen, ohne die der Roman unvollständig wäre: «Und wo immer die unsichtbare Lichtgestalt über dem Getümmel auftauchte, folgten ihr, wie durch eine abgeschirmte Schneise, Menschen, die gegen alles Blei gefeit waren - und blieben vom Tode verschont.»

Statt mit einer Fahne beschützte die ehemalige Motte sie allerdings mit dem Gegenstand ihrer unablässigen Sorge: mit erbeuteten weissen Unterhosen. Merken wir uns das Wort «erbeutet», denn hier kommen wir zu einem weiteren existenziellen Motiv dieses beeindruckenden Romans. Wie Joseph Brodsky im Essay «Kriegsbeute» formuliert: «Am Anfang war Corned Beef in Dosen. Genauer gesagt, am Anfang war der Zweite Weltkrieg.» Für die «Väter» war die Begegnung mit der europäischen Lebensweise ein persönlicher Kulturschock. Für die «Söhne», denen der «Faschist» schon zum «Fritz» geworden war, fand der Schock in der betörenden Akustik fremdländischer Namen und in «allerlei Kriegsklunker» ein Echo - im Drang nach Westen.

Motte verkörpert die Erfahrung beider Generationen. Ihre gesamte Geschichte ist von deutschen Spuren durchzogen. Der Deutschlehrer Walter Iwanowitsch, der ihr Heines «Loreley» und die Musik Wagners nahebringt und eine Walküre in ihr sieht, ist und bleibt ihre wahre Liebe. Vom ihretwegen verhafteten Walter Iwanowitsch über allerlei «Beutegut» - Unterhosen mit gutem Gummi und Kölnischwasser - bis hin zu der kleinen Walther, aus der sie einen SS-Offizier erschiesst, zieht sich durch den Roman das Thema von Russlands ewig ungestillter Sehnsucht nach dem Westen. Vielleicht nimmt der Westen in der russischen Kultur deshalb so oft deutsche Gestalt an, weil wir nach Schicksal und Charakter uns so mörderisch ähnlich und zugleich so gegensätzlich sind. Uns ergänzen wie «schmutziger Sex» und «reine Liebe», wie Leben und Tod, zwischen denen der Roman ausgespannt ist. Nicht von ungefähr bezeichnet auch Brodsky im erwähnten Essay diese Verwandtschaft zwischen rettender Banalität der Existenz und althergebrachtem Leiden am Dasein mit den deutschen Wörtern «Schmalz» und «Schmerz», nun aber in kyrillischen Buchstaben geschrieben.

Maja Turowskaja

Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. - Das Buch erscheint dieser Tage auf Deutsch. Michail Kononow: Die nackte Pionierin. Roman. Kunstmann-Verlag, München 2003. 288 S., Fr. 37.20.

 
 
 

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 Neue Zürcher Zeitung 

 
 
 
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MACHINE TRANSLATION:
 
 Mittwoch, 10. September 2003
 
10. September 2003 

Pionierin, holy and naked

A novel over the hidden erotische longing of Russia

Like few books in the last years Mikhail Kononows provided during the Perestroika more written, but only 2001 published novel "the naked Pionierin" in Russia for excitement. The history of a 14-Jaehrigen, which is at the front the soldier to services, agitates to the brightly deseamed myth "of the Great Patriotic War". That puts volume of full literature-historical allusions.

On the Russian expenditure of Mikhail Kononows novel "the naked Pionierin" stand, as so usual, a few sentences to advertising purposes. Strangely, as far some leads away from the book: "whole history is the representative mono log of a Putaine of the regiment." The manierierte post office-Soviet Euphemismus "Putaine" designates however semantically like stylistic the absolute opposite of moth Maria, the straight times 14-jaehrigen soldier bride. Continues to stand there: "Kononow beerbt Nabokov, which probably made the weightiest contribution, around the Russian language of the description of in former times inexpressible procedures and parts of the body to adapt." But "Lolita" stands also the "naked Pionierin" very far, it is even strange that both found on this wrapping paper-like book envelope. There should be a comparable contribution somewhere for the description of the inexpressible one, so to the earliest in the seal of Joseph Brodsky. Which comes up with it however in the infinity of the Enjambements and in the noise of the time, that built Mikhail Kononow as mainspring into the action.

This book, which too late does not reach the reader with large delay, but by any means, can be slammed shut thereby probably hardly to the works, which do not remember themselves their relationship. It did not emerge not from that anything, but threw taboos off from the turbulent culture reservoir of the Soviet "stagnation time", when one ungratefully at the Sozrealismus remembered, fetched in disgrace masterpieces back pleased, in which Sozart threw itself grimmig laughed and a "view back in the anger" on the past. All forms, whether it mentions or not, the compact "intertext" of the novel, it gleams by the history of the persons under age, which in World War in the role the mg Schuetzin fights the Second, which officers satisfies its front longings and achieves in short dreams, completely without Voland' Zaubercrème, "strategic flights" in addition master ELT and plappert, like it the bill grew - a hinreissende figure with Soviet plates and own word joke, with childlike word rotating and honest childlike logic. It understands itself that in the memory of the novel reminiscences are to popular sozrealistische works: the expressly mentioned "Timur and its troop" of Arkadi Gaidar and the not mentioned "son of the regiment" of Walentin Katajew; the advice of the Partisanin Soja entered in the school program of the post-war period: "give no kiss without love", with Kononow grotesque-proves the fixed idea to his "regiment bride" become, children would come from kissing.

Me thereby still Swetlana Alexijewitschs book "the war does not come has a female face" into the sense: our shock due to the ungekuenstelten narrations of former front soldiers, nor Ptaschuk strengthens by the documentary film of the Byelorussian director. The everyday life of these young girls with as antimilitaristischen problems as Menstruation and BH laundry, with their Frontliebschaften in presence and under participation of death, injured by the war - that was an unknown quantity aspect of the war. Similarly the KZ prisoners felt these Mrs. Scheu their (in the reason of "heroful") past ago. Because in the post-war period they were called soon abschaetzig "MFF", as "march and a field woman". The Komsomolzin, which announced itself voluntarily, in order to shoot a deserter, landed however in the lunatic asylum. Moth should not experience in the rest of no more, there had it a hostile ball between the eyes get.

There were naturally also Sozart. As the related "Pionierin" one does not only zuallererst Woinowitschs "Tschonkin" falls, but also the memorable picture cycle "nostalgic Sozrealismus" from Komar and Melamid, the Patriarchen of the category: It moves the cult descriptive around the leader into the lap of hidden erotischer longings of the nation. As the publisher notices Wiktor Toporow in the preface "Russian humans with the rendezvous with death" rightfully, today "existenzielle abysses" open themselves behind the Entlarvungspathos faded easily. "Kononows heroes step on to the rendezvous with the measured, zerzausten moth, before they come into a rendezvous with death." Behind these abysses, nearly from that nothing, which in the Russian literature deeply durchlittene phenomenon of Bulgakows novel "the master and Margarita" up, whom Kononow quotes and parodiert, dips, as well as the Prosa of Platonow with their strangely sexless Erotik, their ingeniously lawless syntax and a community feeling fixed in such a way on individuals that each of the figures could say: Without me the people is not complete.

Also the "Pionierin" was for a long time in quarantine, to deep inside into post office-Soviet - actually censorshipless - times. But finally: "Halloechen, is not enough seen, everything half so wildly, for sponge more drueber, comrades." But that is not simple a Grimasse of history. Years had to offense and come new generations, which do not have no more in the sense that it had concerned a "patriotic" war and that it was directed against fascism. It had to away-move and become simple the "war", if not in the school books, so emotional.

About a book to say, do not act of the war, with it was once everything said and later nothing at all; today, in one epoch of the wars and the terror, it means again much: Zynismus and "everything are permitted". Moth experienced meanwhile everything that experienced it, in the war; it has all possible "ark types" embodied (bride, nut/mother God, witch, Walkuere), unwanted Sexualbeziehungen, unreturned love for the homeland and even simply love experienced. Even if the author may have corroded everything with acid, it cannot take nevertheless the earned Apotheose, without which the novel would be incomplete to it: "and where always the invisible light shape over the Getuemmel emerged, you, as by a shielded flight corridor, followed humans, who were protected against all lead and remained - exempted from death."

Instead of with a flag the former moth protected it however with the the subject of its incessant concern: with captured white pants. We note the word "captured", because we come here to a further existenziellen motive of this impressing novel. As Joseph Brodsky in the essay "war booty" formulates: "at the beginning Corned Beef was in doses. More exactly said, at the beginning was the Second World War." For the "fathers" the meeting with the European way of life was a personal culture shock. For the "sons", who had already become the "fascist" the "Fritz", the shock in the betoerenden acoustics of fremdlaendischer names and in "all kinds of Kriegsklunker" found an echo - in the urge to the west.

Moth embodies the experience of both generations. Their entire history is from German traces pulled through. The german teacher walter Iwanowitsch, which near-brings its Heines to "Loreley" and the music of wagners and sees a Walkuere in it, is and remains their true love. From the ihretwegen arrested walter Iwanowitsch over all kinds of "booty property" - pants with good rubber and Koelnischwasser - up to the small Walther, from which she shoots an SS officer, draws itself by the novel the topic of of Russia eternally ungestillter longing to the west. Perhaps the west in the Russian culture accepts therefore so often German shape, because we after fate and a character us are so moerderisch similarly and at the same time so opposite. Us supplement like "dirty Sex" and "pure love", as lives and death, between which the novel is stretched. Not of approximately designation also Brodsky in the mentioned essay this relationship between saving banality of the existence and traditional suffering at the existence with the German words "Schmalz" and "pain", now however in cyrillic letters written.

Maja Turowskaja

From the Russian of Rosemarie Tietze. - the book appears these days on German. Mikhail Kononow: The naked Pionierin. Novel. Art man publishing house, Munich 2003. 288   S., Fr.   37.20.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 


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