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Literatur
14.09.2003

Metamorphosen

Kafkas „Verwandlung“ faszinierte Vladimir Nabokov. Als Literat und Insektenfreund studierte er jedes Wort der Käfer-Geschichte. Nun erscheint eine luxuriöse, kritische Neu-Ausgabe

Von Marius Meller

Das Handexemplar einer englischsprachigen Kafka-Ausgabe aus der Bibliothek des großen Vladimir Nabokov hat sich erhalten. Es ist übersät mit Anmerkungen, Korrekturen und Einschiebseln und gleicht in seinem ebenso pedantischen wie chaotischen Erscheinungsbild eher der berüchtigten Fahnenkorrektur von Marcel Prousts „Recherche“ als dem Leseexemplar eines noch so passionierten Kafka-Fans. Nabokov war ein Kafka-Fan. Und er konnte Deutsch, so gut, dass er akribisch Übersetzungsfehler oder -Alternativen vermerkte und so zwischen den Zeilen seine eigene, eine Nabokov’sche Kafka-Version entstehen ließ.

Besonders die Erzählung „The Metamorphosis“, im Original: „Die Verwandlung“, hatte es ihm angetan. Über die Geschi! chte von Gregor Samsa, der eines Morgens aus „unruhigen Träumen“ erwacht und feststellen muss, dass er sich in einen riesigen Käfer verwandelt hat, hielt der Hobby-Insektologe und Schmetterlingssammler Vladimir Nabokov einmal einen mehrstündigen Vortrag. Während des Vortrags projizierte er auch eine zoologisch ziemlich genaue Skizze des Ungeziefers, soweit dessen Äußeres sich aus Kafkas Text rekonstruieren ließ. Diese Skizze stammte ursprünglich aus seinem Handexemplar, wo er auf der ersten Seite der „Verwandlung“, zwischen Überschrift und Textanfang, eine Seitenansicht und eine Aufsicht eines ziemlich pummeligen Käfertieres gezeichnet hatte. Er identifizierte das Insekt als einen „großen Mistkäfer“, fügte allerdings hinzu, dass wohl weder Gregor Samsa noch Kafka den Käfer allzu deutlich vor Augen gehabt hätten.

Nabokov hatte Recht. Immerhin wehrte sich Franz Kafka mit Händen und Füßen gegen eine Darstellung des Ungeziefers auf der Titelillustration des Erstdrucks s! einer Erzählung. Und Gregor Samsa selbst wehrte sich mit Beinchen und Fühlern gegen sein Käfer-Sein, wer wollte es ihm verargen, dass er uns die letzten Hinweise auf die genaue käferkundliche Einordnung seiner verwandelten Erscheinung vorenthalten hat. Und überhaupt: Welcher Käfer könnte sich selbst erkennen?

Zwerge und Gipsheilige

Im gleichen Vortrag ließ Nabokov – unsterblich verliebt in die „Verwandlung“ und ihren Autor – sich zu der emphatischen Äußerung hinreißen, dass Kafka der „größte deutsche Schriftsteller unserer Epoche“ sei. „Dichter wie Rilke oder Romanautoren wie Thomas Mann“ seien „Zwerge oder Gipsheilige“ verglichen mit ihm.

Heute ist die „Verwandlung“ einer der berühmtesten literarischen Texte überhaupt. Und in der Rangliste des US-amerikanischen Kritikerpapstes Harold Bloom rangiert Kafka gleich hinter der Bibel, Shakespeare und Dante, hingegen der arme Gipsheilige Thomas Mann unter „ferner liefen“. Kafka, der sich in seinem unendlichen Hochmut zu Lebzeiten beharrlich zum kleinsten aller Schreib-Zwe! rge stilisierte, ist eine Art Scheinriese, wie wir ihn aus Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf“ kennen. Je weiter man sich entfernt, desto größer wird er. Das ist umso bemerkenswerter, als über Kafkas Rätseltexte fast genauso viele Interpretationen existieren, wie Leser. Die postmoderne Hermeneutik, die in jeder Rekonstruktion von Sinn totalitäre Gesinnung am Werke sieht, gab den Freibrief, Kafka als Projektionsfläche unserer interpretativen Fantasien zu nutzen. Aber bleibt nicht ein Zweifel in all dem Meinungswust? Sind wir, wenn wir ehrlich sind, nicht gerade deshalb so fasziniert von Kafka, weil wir intuitiv hinter seinen Texten eine eminente Weisheit vermuten, die womöglich nicht ganz von dieser Welt ist? Walter Benjamin und Gershom Scholem näherten sich als erste Kafka so ehrfürchtig wie einst die Kabbalisten der Thora, die davon überzeugt waren, dass der verborgene Sinn der Schrift sich erst mit der Ankunft des Messias offenbaren würde.

In so einer Situation de! s Abwartens, bis sich die Schrift vielleicht eines Tages in Sinn verwa ndelt, tut man in jedem Falle gut daran, vor dem Geist oder Ungeist der Deutung auf die Überlieferung des Buchstabens zurückzugehen und diesem möglichst kein Jota hinzuzufügen oder wegzunehmen – im Falle der Bibel hat das Jahrtausende lang hervorragend geklappt, im Fall Kafka ist man seit einiger Zeit dabei. Der seit zwanzig Jahren im S. Fischer Verlag erscheinenden Kritischen Kafka-Ausgabe steht seit 1997 ein selbstbewusst schlicht „FKA“, „Franz Kafka-Ausgabe“ getauftes Projekt gegenüber, das im Stroemfeld Verlag herauskommt. Die beiden Editoren der FKA, Roland Reuß und Peter Staengle haben gerade den Band mit der „Verwandlung“ fertiggestellt. „Process“, die „Beschreibung eines Kampfes“ und zwei Quarthefte sind bereits vor einiger Zeit erschienen.

Reuß und Staengle hatten einiges gegen das Konkurrenzprojekt einzuwenden. Die Fischer-Ausgabe sei unpraktisch, unvollständig und überdies nicht „historisch-kritisch“ im strengen Sinne. Sie diene mehr als den wissenschaftlic! hen Bedürfnissen den Geschäftsinteressen, denn sie sei vor allem darauf ausgerichtet gewesen, rechtzeitig vor dem Auslaufen der Urheberrechte von Kafka im Jahre 1994, Lesetexte für das breite Publikum herzustellen. Bei einer Gesamtauflage von 4,5 Millionen allein der alten Taschenbuchausgabe mit den Erzählungen im Fischer-Verlag war das wohl auch geboten.

Nabokov am Monitor

Daran ist auch an sich nichts Verwerfliches, möchte man denken. Sorgfältig gemachte Kafka-Leseausgaben sind angesichts der verworrenen Manuskriptlage und der Tatsache, dass Kafka zu Lebzeiten nur weniges veröffentlichte, doch sehr wünschenswert. Aber wenn man der Entwicklung des Kafkaschen Schreibvorgangs auf die Spur kommen will, ist die Fischer-Ausgabe eher umständlich: Man muss den separaten Apparatband neben den Lesetext legen und in verschiedenen Kapiteln gleichzeitig blättern, um an alle nötigen Informationen zu gelangen. Und im Fischer-Band mit der „Verwandlung“ ist den Herau! sgebern sogar ein unschöner Flüchtigkeitsfehler unterlaufen: Man sucht die Lesarten zu den letzten 23 Zeilen des Manuskripts vergeblich. Sie fehlen einfach.

Die opulente Ausgabe von Reuß und Staengle enthält die gesamte Handschrift als Faksimile, samt diplomatischer Umschrift über 170 Seiten, die das Manuskript Blatt für Blatt lesbar macht. Außerdem enthält der Schuber im DIN A4-Format einen weiteren Broschurband mit Materialien und dem Lesetext in angenehmem Großdruck. Mittels einer beigelegten CD-Rom kann man am Computer den Text per Volltextsuche erschließen.

Aber der Knüller ist in einem weiteren Pappschuber untergebracht: der Nachdruck der Original-Buchausgabe der „Verwandlung“ von 1915 in der berühmten Reihe „Der jüngste Tag“ im Kurt Wolff Verlag. Nicht nur Bibliophile werden sich umgehend in das Projekt FKA verlieben, wenn sie den kleinen schwarzen Broschurband in den Händen halten, der einen per Zeittunnel mal eben 88 Jahre zurückversetzt. Der passionierte Leser ist daran gewöhnt, dass er anhand von Texten durch die Zeite! n wandert. Wenn ein Buch aber druckfrisch duftet und dabei exakt so aussieht wie man es 1915 (druckfrisch) erwerben konnte, dann wird selbst dem erfahrensten Buchmenschen schwindelig.

In Vladimir Nabokov hätte die „Verwandlung“ in der Ausgabe von Reuß und Staengle ihren ersten und eifrigsten Leser. Heute hätte er gewiss einen Multimedia-Arbeitsplatz zwischen seinen Schmetterlings-Sammelkästen, würde sich die Verästelungen der Kafka’schen Handschrift bis auf Buchstabengröße hochzoomen und würde seine eigenen, zierlichen Schriftzeichen in das Faksimile eintragen. Aus der Käfer-Geschichte entstünde ein merkwürdiges Palimpsest, eine Schrift-Verpuppung, und vielleicht würde eines Tages ein Schmetterling schlüpfen, der Schmetterling des Sinns.



Franz Kafka: Die Verwandlung. Faksimile-Edition mit CD und Nachdruck der ersten Buchausgabe von 1915. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt a. M. 2003, 355 S., 128 €. Der Na! chdruck der Erstausgabe ist separat für 18 € erhältlich.
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Literature
14.09.2003

Metamorphosis

Kafkas "conversion" fascinated Vladimir Nabokov. As Literat and an insect friend he studied each word of beetle history. Now luxurioese, critical New edition appears

Of Marius Meller

The hand copy of a English-language Kafka expenditure from the library of the large Vladimir Nabokov kept. It is scattered with notes, corrections and Einschiebseln and resembles in its just as pedantischen as chaotic appearance rather the notorious fahnenkorrektur of Marcel Prousts "search" as the read copy of a still in such a way passionierten Kafka fan. Nabokov was a Kafka fan. And it knew German, so well that it noted with the utmost care translation errors or alternatives and let between the lines its own, a Nabokov' Kafka version develop in such a way.

Particularly the narration "The Metamorphosis", in the original: "the conversion", had done it to it. Over the history of Gregor Samsa, which must determine one m! orning from "jerky dreams" awaked and that he transformed into an enormous beetle, held the hobby Insektologe and butterfly collecting tank Vladimir Nabokov once a lecture lasting several hours. During the lecture it projected also a zoo-logically rather exact sketch of vermin, as far as its exterior could be reconstructed from Kafkas text. This sketch originally originated from its hand copy, where it had drawn on the first side of the "conversion", between heading and textanfang, a side view and a supervision of a rather pummeligen beetle animal. It identified the insect as a "large mistkaefer", added however that neither Gregor Samsa nor Kafka would probably have had the beetle all too clearly before eyes.

Nabokov was right. Franz Kafka with hands and feet nevertheless resisted a representation of vermin on the title illustration of the Erstdrucks of its narration. And Gregor Samsa resisted with Beinchen and feelers its Kaefer-Sein, who wanted it him bad that he ! withheld us the last referring to the exact kaeferkundliche classifica tion of its changed feature. And at all: Which beetle could recognize each other?

Dwarves and gypsum-holy

In the same lecture Nabokov - unsterblich it falls in love with the "conversion" and its author - could be hinreissen to the emphatic expression that Kafka the "largest German writers of our epoch" was. "poets such as Rilke or novelists such as Thomas's man" are compared "dwarves or gypsum-holy" with him.

Today the "conversion" is one of the most famous literary texts at all. And in the rank list of the US-American critic Pope Harold Bloom Kafka ranks equal behind the Bible, Shakespeare and Dante, however poor gypsum-holy the Thomas's man under "furthermore ran". Kafka, which stylized itself persistently in its infinite pride during lifetimes to smallest all write dwarves, is a kind illusory giant, as we know him from Michael of end kinderbuch "Jim button". The further one departs, he becomes the larger. That is all the more remarkable, as ! over Kafkas mystery texts exist nearly exactly the same many interpretations, like readers. The postmodernism Hermeneutik, which sees totalitarian convicition in each reconstruction of sense to works, gave the charter to use Kafka as projektionsflaeche of our interpretive Fantasien. But a doubt does not remain in all the opinion mass? Aren't we, if we are honest, so fascinated straight by Kafka, because we assume a eminente wisdom, which is possibly not whole from this world intuitively behind its texts? Walter Benjamin and Gershom Scholem approached as first Kafka as ehrfuerchtig as once the Kabbalisten of the Thora, which were convinced of the fact that the hidden sense of the writing would only reveal itself with the arrival of the Messias.

In so a situation of being waiting, until the writing perhaps transforms a daily into sense, one does in each case well to decrease/go back and this if possible no Jota add before the spirit or Ungeist of the interpretation to! the excessive quantity of the letter or take away - in the case of th e Bible that folded thousands of years long outstanding, in the case Kafka participates one for some time. For twenty years the critical Kafka expenditure appearing in the S. Fischer publishing house faces since 1997 self-confidently simply a "FKA", "Franz Kafka expenditure" baptized project, which comes out in the flowing field publishing house. The two editors of the FKA, Roland Reuss and Peter Staengle finished the straight volume with the "conversion". "Process", which are "description of one fight" and two quart booklets already some time ago appeared.

Reuss and Staengle had to object some to the competition project. Expenditure for Fischer is unpractically, incomplete and besides not "historical critical" in the strict sense. It serves more than the scientific needs the business interests, because it was aligned above all to it, in time before running out copyrights of Kafka in the year 1994 to manufacture read texts for the broad public. With a total circulati! on of 4.5 million alone that was probably required to the old expenditure for paperback with the narrations in the Fischer publishing house.

Nabokov at the monitor

To it nothing despicable is also actually, would like one to think. Carefully made Kafka Leseausgaben is in view of the verworrenen manuscript situation and the fact that Kafka during lifetimes only weniges published, but very desirably. But if one wants to come the development of the Kafka recording procedure on the trace, expenditure for Fischer is rather pedantic: One must put and through different chapters leaf the separate apparatus volume at the same time beside the read text, in order to arrive at all necessary information. And in the Fischer volume with the "conversion" is the publishers even an unpleasant fluechtigkeitsfehler occur: One looks for the Lesarten to the last 23 lines of the manuscript in vain. They are missing simply.

The opulente expenditure of Reuss and Staen! gle contains the entire handwriting as facsimile, including diplomatic transcription over 170 sides, which readable the manuscript sheet for sheet makes. In addition the schuber contains in DIN A4-Format a further Broschurband with materials and the read text in pleasant large pressure. By means of settled CD Rome one can open the text at the computer by full text search.

But the scoop is accommodated in a further Pappschuber: the reproduction of the expenditure for original book of the "conversion" of 1915 in the famous row "the recent day" in the Kurt Wolff publishing house. Bibliophile will not only fall in love immediately with the project FKA, if they hold the small black Broschurband in the hands, which carries one back by time tunnels times evenly 88 years. The passionierte reader is accustomed to the fact that he moves on the basis texts by the times. If a book however pressure-freshly smells and like one accurately in such a way looks it 1915 (pressure-freshly) acquire could, then becomes even the most experienced book human b! eing schwindelig.

In Vladimir Nabokov would have the "conversion" in the expenditure of Reuss and Staengle its first and most eager reader. Today it would have a Multimedia job between its butterfly collecting boxes, will itself the branchings of the Kafka' handwriting up to letter size high zoom and its own, delicate characters into the facsimile would certainly register. From beetle history a strange Palimpsest, a writing pupating would develop, and perhaps a daily a butterfly would slip, the butterfly of the sense.



Franz Kafka: The conversion. Facsimile edition with CD and reproduction of the first expenditure for book of 1915. Hrsg. by Roland Reuss and Peter Staengle. Publishing house flow-field/red star, Frankfurt A. M. 2003, 355 S., 128 & euro;. The reproduction of the first edition is separate for 18 & euro; available.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 


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