"Ich bin eine amerikanische Promenadenmischung"In dieser Woche erscheint sein Roman "Middlesex": Pulitzer-Preisträger Jeffrey Eugenides und die Vererbungslehre der Literatur
DIE WELT: Als Michael Chabon vor einem
Jahr erfuhr, dass er den Pulitzer Preis bekommen hatte, bestellte er
Pizza. Was haben Sie in diesem Jahr getan? Jeffrey Eugenides: Er muss früher am Tag davon
erfahren haben als ich. Bei mir war es halb eins in der Nacht, da war mir
nicht nach Pizza. Außerdem hatte mein Verleger Champagner in das Prager
Hotel schicken lassen, in dem ich gerade war. DIE WELT: Lohn einer langen Arbeit. An
Ihrem Roman "Middlesex" haben Sie acht Jahre gearbeitet. Haben Sie je
befürchtet, Sie könnten scheitern an diesem Riesenprojekt? Eugenides: Ich habe oft gezweifelt, besonders
in den ersten Jahren, als ich nach dem richtigen Ton und der richtigen
Erzählstrategie gesucht habe. Anfangs habe ich das Buch ein paar Mal zur
Seite gelegt und gedacht: Das kann ich nicht, ich muss ein anderes Buch
schreiben oder ein kürzeres aus diesem machen. Aber dann habe ich wieder
den Sirenengesang seiner Geschichte gehört. DIE WELT: War das Buch Ihr
Gefängniswärter? Eugenides: Manchmal mache ich den Witz:
Stockholm-Syndrom wie bei Patty Hearst. Aber wenn man acht Jahre an einem
Buch arbeitet, ist es offensichtlich nicht das reine Leiden. DIE WELT: Eine der vielen verblüffenden
Ideen in "Midlesex" ist die Art und Weise, wie der Roman Genetik versteht.
Genetik erscheint darin als so etwas wie die Körpersprache der Geschichte.
Eugenides: Ich weiß nicht genau, wohin dieses
Bild, das sie da gebrauchen, führt, aber ich weiß, dass die Literatur
selbst eine ganz eigene Vererbungslehre hat. Mit "Middlesex" wollte ich
einigen alten Pfaden des Erzählens folgen, um schließlich in einem Roman
des 21. Jahrhunderts anzukommen. So wie unsere Körper genetisches Material
enthalten, das zurückreicht bis zu unseren prähistorischen Vorfahren,
enthält "Middlesex" das genetische Material der großen antiken Epen:
Homer, Vergil, Ovid. DIE WELT: Aus welchem Genpool kommt denn
der Schriftsteller Jeffrey Eugenides? Eugenides: Sowohl der Schriftsteller als auch
der Mensch Jeffrey Eugenides ist eine Promenadenmischung. Er trägt
Elemente vieler verschiedener Kulturen und Länder in sich. Die klassischen
Autoren der Antike haben mich ebenso beeinflusst wie die großen Russen
Tolstoi und Nabokov, die großen jüdischen Autoren Amerikas, Saul Bellow
und Philip Roth, und dann steckt möglicherweise auch ein bisschen Henry
James mit drin und Salman Rushdie. Ich bin wirklich eine amerikanische
Promenadenmischung. DIE WELT: Warum erwähnen Sie Laurence
Sterne nicht? "Middlesex" erscheint mir wie ein "Tristram Shandy" für das
21. Jahrhundert. Eugenides: Sie haben völlig Recht: "Tristram
Shandy" hat mich beeinflusst. Ich liebe die Verspieltheit dieses Romans,
ein Lieblingsbuch vieler postmoderner Autoren, die ich bewundere. DIE WELT: "Middlesex" ist streckenweise
ein sehr komischer Roman. Überhaupt spielt Humor eine große Rolle nicht
nur für Sie, sondern auch für Ihre Kollegen David Foster Wallace und
Jonathan Franzen. Warum? Eugenides: Ich glaube kaum, dass ein Buch, das
so viele Facetten menschlicher Erfahrung zeigen will, das Komische
vernachlässigen kann. Es gibt viel Tragisches in "Middlesex", und manche
Teile des Romans sind sehr traurig. Ich kann der Tragik leichter begegnen,
wenn befreiende Komik sie einrahmt. DIE WELT: Milton Stephanides, die
Vaterfigur in "Middlesex", stirbt bei einem Unfall und glaubt im letzten
Moment, sein Cadillac würde fliegen Eugenides: Mein Vater starb beim Absturz eines
Privatflugzeugs, und diese Episode des Romans war meine Art, seinen Tod zu
mythologisieren. Es ist eine der am deutlichsten autobiografischen
Passagen des Buches und eine der schmerzhaftesten. Von einem persönlichen
Standpunkt aus betrachtet, war es aber auch eine der befreiendsten,
während ich schrieb. DIE WELT: Sie leben in Berlin. Aber Sie
hegen Umzugspläne? Eugenides: Immer wenn es Sommer wird, glauben
meine Frau und ich, in die Vereinigten Staaten zurück zu müssen. Unsere
Familien sind so weit weg, unsere Tochter lebt so weit entfernt von ihren
Cousins und Cousinen. Aber wenn der Sommer zu Ende geht, bleiben wir dann
doch. Auch in diesem Jahr wollen wir umziehen, aber es würde mich nicht
wundern, wenn wir im Herbst immer noch in Schöneberg wären. DIE WELT: Sie schreiben ein Sachbuch
über Berlin Eugenides: Ich habe das Projekt beiseite
gelegt. Während der Arbeit an "Middlesex" habe ich einen zweiten Roman
begonnen und etwa hundert Seiten lang daran geschrieben. Jetzt bin ich zu
diesem Projekt zurückgekehrt. Aber Berlin wird in meiner Arbeit eine Rolle
spielen. Normalerweise gibt es da eine gewisse Zeitverzögerung:
"Middlesex" ist ein Roman über Detroit, wo ich seit zwanzig Jahren nicht
mehr lebe. Das Gespräch führte Wieland Freund. "Middlesex"
kommt diese Woche auf Deutsch bei Rowohlt heraus. Die Besprechung folgt in
der nächsten "Literarischen Welt". Artikel erschienen am 5. Mai 2003 |