MetamorphosenKafkas „Verwandlung“
faszinierte Vladimir Nabokov. Als Literat und Insektenfreund
studierte er jedes Wort der Käfer-Geschichte. Nun erscheint eine
luxuriöse, kritische Neu-Ausgabe
Von Marius
Meller
Das Handexemplar einer englischsprachigen
Kafka-Ausgabe aus der Bibliothek des großen Vladimir Nabokov hat
sich erhalten. Es ist übersät mit Anmerkungen, Korrekturen und
Einschiebseln und gleicht in seinem ebenso pedantischen wie
chaotischen Erscheinungsbild eher der berüchtigten Fahnenkorrektur
von Marcel Prousts „Recherche“ als dem Leseexemplar eines noch so
passionierten Kafka-Fans. Nabokov war ein Kafka-Fan. Und er konnte
Deutsch, so gut, dass er akribisch Übersetzungsfehler oder
-Alternativen vermerkte und so zwischen den Zeilen seine eigene,
eine Nabokov’sche Kafka-Version entstehen ließ.
Besonders
die Erzählung „The Metamorphosis“, im Original: „Die Verwandlung“,
hatte es ihm angetan. Über die Geschi! chte von Gregor Samsa, der
eines Morgens aus „unruhigen Träumen“ erwacht und feststellen
muss, dass er sich in einen riesigen Käfer verwandelt hat, hielt
der Hobby-Insektologe und Schmetterlingssammler Vladimir Nabokov
einmal einen mehrstündigen Vortrag. Während des Vortrags
projizierte er auch eine zoologisch ziemlich genaue Skizze des
Ungeziefers, soweit dessen Äußeres sich aus Kafkas Text
rekonstruieren ließ. Diese Skizze stammte ursprünglich aus seinem
Handexemplar, wo er auf der ersten Seite der „Verwandlung“,
zwischen Überschrift und Textanfang, eine Seitenansicht und eine
Aufsicht eines ziemlich pummeligen Käfertieres gezeichnet hatte.
Er identifizierte das Insekt als einen „großen Mistkäfer“, fügte
allerdings hinzu, dass wohl weder Gregor Samsa noch Kafka den
Käfer allzu deutlich vor Augen gehabt hätten.
Nabokov
hatte Recht. Immerhin wehrte sich Franz Kafka mit Händen und Füßen
gegen eine Darstellung des Ungeziefers auf der Titelillustration
des Erstdrucks s! einer Erzählung. Und Gregor Samsa selbst wehrte
sich mit Beinchen und Fühlern gegen sein Käfer-Sein, wer wollte es
ihm verargen, dass er uns die letzten Hinweise auf die genaue
käferkundliche Einordnung seiner verwandelten Erscheinung
vorenthalten hat. Und überhaupt: Welcher Käfer könnte sich selbst
erkennen?
Zwerge und Gipsheilige
Im gleichen
Vortrag ließ Nabokov – unsterblich verliebt in die „Verwandlung“
und ihren Autor – sich zu der emphatischen Äußerung hinreißen,
dass Kafka der „größte deutsche Schriftsteller unserer Epoche“
sei. „Dichter wie Rilke oder Romanautoren wie Thomas Mann“ seien
„Zwerge oder Gipsheilige“ verglichen mit ihm.
Heute ist die
„Verwandlung“ einer der berühmtesten literarischen Texte
überhaupt. Und in der Rangliste des US-amerikanischen
Kritikerpapstes Harold Bloom rangiert Kafka gleich hinter der
Bibel, Shakespeare und Dante, hingegen der arme Gipsheilige Thomas
Mann unter „ferner liefen“. Kafka, der sich in seinem unendlichen
Hochmut zu Lebzeiten beharrlich zum kleinsten aller Schreib-Zwe!
rge stilisierte, ist eine Art Scheinriese, wie wir ihn aus Michael
Endes Kinderbuch „Jim Knopf“ kennen. Je weiter man sich entfernt,
desto größer wird er. Das ist umso bemerkenswerter, als über
Kafkas Rätseltexte fast genauso viele Interpretationen existieren,
wie Leser. Die postmoderne Hermeneutik, die in jeder
Rekonstruktion von Sinn totalitäre Gesinnung am Werke sieht, gab
den Freibrief, Kafka als Projektionsfläche unserer interpretativen
Fantasien zu nutzen. Aber bleibt nicht ein Zweifel in all dem
Meinungswust? Sind wir, wenn wir ehrlich sind, nicht gerade
deshalb so fasziniert von Kafka, weil wir intuitiv hinter seinen
Texten eine eminente Weisheit vermuten, die womöglich nicht ganz
von dieser Welt ist? Walter Benjamin und Gershom Scholem näherten
sich als erste Kafka so ehrfürchtig wie einst die Kabbalisten der
Thora, die davon überzeugt waren, dass der verborgene Sinn der
Schrift sich erst mit der Ankunft des Messias offenbaren
würde.
In so einer Situation de! s Abwartens, bis sich die
Schrift vielleicht eines Tages in Sinn verwa ndelt, tut man in
jedem Falle gut daran, vor dem Geist oder Ungeist der Deutung auf
die Überlieferung des Buchstabens zurückzugehen und diesem
möglichst kein Jota hinzuzufügen oder wegzunehmen – im Falle der
Bibel hat das Jahrtausende lang hervorragend geklappt, im Fall
Kafka ist man seit einiger Zeit dabei. Der seit zwanzig Jahren im
S. Fischer Verlag erscheinenden Kritischen Kafka-Ausgabe steht
seit 1997 ein selbstbewusst schlicht „FKA“, „Franz Kafka-Ausgabe“
getauftes Projekt gegenüber, das im Stroemfeld Verlag herauskommt.
Die beiden Editoren der FKA, Roland Reuß und Peter Staengle haben
gerade den Band mit der „Verwandlung“ fertiggestellt. „Process“,
die „Beschreibung eines Kampfes“ und zwei Quarthefte sind bereits
vor einiger Zeit erschienen.
Reuß und Staengle hatten
einiges gegen das Konkurrenzprojekt einzuwenden. Die
Fischer-Ausgabe sei unpraktisch, unvollständig und überdies nicht
„historisch-kritisch“ im strengen Sinne. Sie diene mehr als den
wissenschaftlic! hen Bedürfnissen den Geschäftsinteressen, denn
sie sei vor allem darauf ausgerichtet gewesen, rechtzeitig vor dem
Auslaufen der Urheberrechte von Kafka im Jahre 1994, Lesetexte für
das breite Publikum herzustellen. Bei einer Gesamtauflage von 4,5
Millionen allein der alten Taschenbuchausgabe mit den Erzählungen
im Fischer-Verlag war das wohl auch geboten.
Nabokov am
Monitor
Daran ist auch an sich nichts Verwerfliches,
möchte man denken. Sorgfältig gemachte Kafka-Leseausgaben sind
angesichts der verworrenen Manuskriptlage und der Tatsache, dass
Kafka zu Lebzeiten nur weniges veröffentlichte, doch sehr
wünschenswert. Aber wenn man der Entwicklung des Kafkaschen
Schreibvorgangs auf die Spur kommen will, ist die Fischer-Ausgabe
eher umständlich: Man muss den separaten Apparatband neben den
Lesetext legen und in verschiedenen Kapiteln gleichzeitig
blättern, um an alle nötigen Informationen zu gelangen. Und im
Fischer-Band mit der „Verwandlung“ ist den Herau! sgebern sogar
ein unschöner Flüchtigkeitsfehler unterlaufen: Man sucht die
Lesarten zu den letzten 23 Zeilen des Manuskripts vergeblich. Sie
fehlen einfach.
Die opulente Ausgabe von Reuß und Staengle
enthält die gesamte Handschrift als Faksimile, samt diplomatischer
Umschrift über 170 Seiten, die das Manuskript Blatt für Blatt
lesbar macht. Außerdem enthält der Schuber im DIN A4-Format einen
weiteren Broschurband mit Materialien und dem Lesetext in
angenehmem Großdruck. Mittels einer beigelegten CD-Rom kann man am
Computer den Text per Volltextsuche erschließen.
Aber der
Knüller ist in einem weiteren Pappschuber untergebracht: der
Nachdruck der Original-Buchausgabe der „Verwandlung“ von 1915 in
der berühmten Reihe „Der jüngste Tag“ im Kurt Wolff Verlag. Nicht
nur Bibliophile werden sich umgehend in das Projekt FKA verlieben,
wenn sie den kleinen schwarzen Broschurband in den Händen halten,
der einen per Zeittunnel mal eben 88 Jahre zurückversetzt. Der
passionierte Leser ist daran gewöhnt, dass er anhand von Texten
durch die Zeite! n wandert. Wenn ein Buch aber druckfrisch duftet
und dabei exakt so aussieht wie man es 1915 (druckfrisch) erwerben
konnte, dann wird selbst dem erfahrensten Buchmenschen
schwindelig.
In Vladimir Nabokov hätte die „Verwandlung“ in
der Ausgabe von Reuß und Staengle ihren ersten und eifrigsten
Leser. Heute hätte er gewiss einen Multimedia-Arbeitsplatz
zwischen seinen Schmetterlings-Sammelkästen, würde sich die
Verästelungen der Kafka’schen Handschrift bis auf Buchstabengröße
hochzoomen und würde seine eigenen, zierlichen Schriftzeichen in
das Faksimile eintragen. Aus der Käfer-Geschichte entstünde ein
merkwürdiges Palimpsest, eine Schrift-Verpuppung, und vielleicht
würde eines Tages ein Schmetterling schlüpfen, der Schmetterling
des Sinns.
Franz Kafka: Die Verwandlung.
Faksimile-Edition mit CD und Nachdruck der ersten Buchausgabe von
1915. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Verlag
Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt a. M. 2003, 355 S., 128 €. Der
Na! chdruck der Erstausgabe ist separat für 18 €
erhältlich. <
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