Ein Künstler in zwei
Welten Regietalent: Branko Simic
inszeniert Nabokovs Short Story "Zufall" auf Kampnagel. Heute ist
Premiere.
Von Klaus Witzeling
Hamburg - Zufällig las Branko Simic auf einer Reise im Nachtzug von Zürich
nach Rom Erzählungen von Vladimir Nabokov. Eine davon hieß "Zufall". Sie
hat ihn seither nicht losgelassen. Eigentlich wollte er die melancholische
Kurzgeschichte verfilmen. Sie erzählt von einem Paar auf der Flucht, das
sich im Express Berlin-Paris um Haaresbreite verfehlt. Nun wurde aus dem
lakonischen Text ein filmisches Theaterstück. In Eva Maria Stütings
Bühnenbearbeitung und Simics Inszenierung hat "Zufall" heute Premiere in
der Kampnagelfabrik.
Kein Zufall ist, dass der Kroate aus Bosnien
an dieser Short Story hängen geblieben ist. Wie Nabokovs Protagonisten !
den politischen Unruhen der russischen Revolution ausweichen, ist Simic
1992 vor dem Krieg in seiner Heimat geflohen und fand glücklicherweise bei
einer Tante in Hamburg Obdach.
Er hatte an der Akademie der
Szenischen Künste in Sarajevo Schauspiel studiert. "Im Krieg war plötzlich
alles anders. Ich konnte mich mit keiner Partei identifizieren. Im
Gegensatz zu jenen Leuten, die in den Kampf gezogen sind. Ich ahnte das
kommende Chaos, das sowohl lokalen wie globalen Charakter hat." Die
Geschichte zeige: "In Krisenzeiten brennt der Balkan. Er dient als Ventil
für die international angespannte Lage."
Der Neustart in Hamburg
war schwierig. Simic, 1968 im bosnischen Tuzla geboren und dort schon als
Zwölfjähriger in einer freien Theatergruppe, sprach kein Wort Deutsch,
musste sich in der Fremde erst zurechtfinden. 1996 begann er das
Regiestudium bei Jürgen Flimm an der Universität. "Man kam mir entgegen
und ermutigte mich. Inszenieren war für mich eine logische Kon! sequenz.
Schon beim Schauspieltraining war mir nicht egal, aus welchem Glas ich
trinke. Mich faszinieren Zusammenhänge am Theater."
Erste
Inszenierungen entstanden bereits während des Studiums. Becketts
"Endspiel" war im TiK und an den Kammerspielen zu sehen, seine
Diplomarbeit "Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch" nach einer Novelle von
Danilo Kis 2000 auf Kampnagel.
Dort hat Simic Walter Kohls
"Ritzen" mit Gloria Brillowska produziert und erhielt dafür den Hamburger
Förderpreis für Theaterregie 2002. Auch Erfahrung am Stadttheater hat der
Regisseur gesammelt, in Würzburg "Gier" von Sarah Kane herausgebracht und
"Ritzen" nochmals in Greifswald. Zuletzt erregte seine "Dreigroschenoper"
Aufsehen in Sarajevo. Sie entstand mit Schauspielstudenten und hatte
Premiere beim internationalen experimentellen Festival MESS neben
Aufführungen von Peter Brook und Nicolas Stemann. Aus dem Brecht-Stück hat
er eine HipHop-Oper gemacht. Brisanz erhielt sie durch den jetzigen
sozialen und politischen Kontext in Bosnien. "Mafia und Staat sind doch!
praktisch eins. Durch die Realität bekamen Brechts Theorien Boden, sein
Stück wurde aggressiver und dynamischer."
Simic, dessen private
wie künstlerische Kontakte zur Heimat nie abgerissen sind, reflektiert in
seinem Erzähltheater kritisch die Kunst und die Zeit: "Der Inhalt der
Geschichten bestimmt die Form." Mit Heiner Müller glaubt er: "Aktualität
der Kunst ist morgen." Er lässt sich von Neuen Medien und der europäischen
Kunstfilmtradition eines Fellini und Tarkovskij inspirieren. Auch von den
eigenen Erfahrungen und Lebensumbrüchen.
"Meine Vision von der
Welt ist schwarz. Und auf diese schwarze Realität sollte Theater
hinweisen." In "Zufall" untersucht er außerdem die Möglichkeiten, eine
filmische Geschichte mit den Techniken des Films auf die Bühne zu bringen.
"Ich denke, davon könnte das Theater profitieren. Seine Banalisierung zum
Event oder zur puren Spaßkunst ist eine Horrorvision."
"Zufall" nach V. Nabokov, Premiere heute (20 Uhr), Kampnagelfabrik,
Jarrestraße 20, Karten: 27 09 49 49.
erschienen am 3. Dez 2003 in Kultur / Medien
weitere Artikel zum
Thema:
|