Bekanntlich hat sich Vladimir Nabokov (1899-1977)
in allen Sparten der schönen Literatur umgetan, am
erfolgreichsten war er als Erzähler, am wenigsten erfolgreich
als Dramatiker. Seine hochkarätige, schwer übersetzbare Lyrik
bleibt noch zu entdecken, sein Briefwerk, die Essayistik, die
Vorlesungen sind in mehreren Bänden greifbar. Demgegenüber
steht die adäquate Publikation der zahlreichen Interviews, von
denen der Autor selbst eine knappe Auswahl in dem Band «Strong
Opinions» (1974) versammelt hat, noch immer aus. Für Nabokov
war das Interview die bevorzugte publizistische Textsorte,
manche Gespräche wurden auf dem Korrespondenzweg geführt, und
man weiss, dass der Schriftsteller in vielen Fällen nicht nur
seine eigenen Verlautbarungen, sondern auch die Fragen seiner
Gesprächspartner vor der jeweiligen Drucklegung streng
redigiert, wenn nicht gar weitgehend umgeschrieben hat. So
gewinnen die Interviews fast durchwegs den Status und die
Qualität eigenständiger Essays in Dialogform.
Zwei derartige Gespräche aus Nabokovs Schweizer
Jahren - ab 1959 lebte der geborene Russe als amerikanischer
Staatsbürger bis zu seinem Tod in Montreux - hat nun der
Publizist Nikolai Melnikow erstmals und exklusiv in der
Moskauer «Literaturnaja Gaseta» (Nr. 27, 2002) nachgedruckt.
Es handelt sich dabei um je ein Interview aus der
französischen Regionalzeitung «Nice-Matin» (1961) sowie aus
dem «Journal de Montreux» (1964) - beide Veröffentlichungen
scheinen der Nabokov-Forschung bisher entgangen zu sein. Als
hauptsächliches Gesprächsthema erweist sich, keineswegs
unerwartet, der Roman «Lolita» (1955), der dem Autor nach
langen Jahren der Verkennung Weltruhm einbrachte und ihm die
Rückkehr nach Europa, die Übersiedelung in die Schweiz
ermöglichte. Die erotomanische Story vom halbwüchsigen
«Nymphchen» Lolita und seinem Verehrer Humbert Humbert, der
zum Verfolger und schliesslich zum Verbrecher wird, hatte
international skandalöses Aufsehen erregt, was den Autor dazu
veranlasste, in immer wieder neuen Stellungnahmen jeden
Pornographievorwurf zurückzuweisen und auf der Fiktionalität
der Romanhandlung zu beharren.
«Ich habe mir Lolita ausgedacht», betont Nabokov:
«Mag sein, dass sie irgendwo auf der Welt schon existiert hat,
nicht aber in der Literatur!» «Lolita» ist also nicht nach
einem ausserliterarischen Muster gearbeitet und ist auch nicht
als Modell für ausserliterarischen Gebrauch gedacht; das
Interesse des Autors liegt auf einer ganz andern, eher
experimentellen Ebene. «Der Plot des Buches ist völlig frei
erfunden. Ich untersuche darin ein mich interessierendes
Thema: Wie gehen zwei ganz und gar unterschiedliche Menschen
miteinander um. Das ist alles . . .» Stanley
Kubricks Verfilmung des Romans (1962) mit James Mason und Sue
Lyon hält Nabokov für eine professional ehrbare Leistung, die
aber «absolut nichts» erbringe, was über das Buch hinausweise,
im Gegenteil - der Film «simplifiziert den Stoff wie auch die
Idee» des Romans.
Zur Frage nach dem Modus seiner literarischen
Kreativität äussert sich Nabokov in einem knappen, sehr
persönlich gehaltenen Exkurs: «Kreativität ist keine
Disziplin, sondern - ein Zustand. Weder Ort noch Zeit, noch
Umstände haben irgendeine Bedeutung. Ich schreibe oft in der
Badewanne. Ich kann in der Früh, kann auch nachmittags oder
nachts arbeiten. Bisweilen schreibe ich gleichzeitig an zwei
verschiedenen Büchern oder fülle viele Seiten, die zu
verschiedenen Kapiteln gehören. Stets habe ich meine
Notizzettel und einen Bleistift bei mir. (. . .) Oft
arbeite ich auch im Auto. Fast die ganze ‹Lolita› habe ich
unter Platanen an einem Strassenrand
verfasst . . .»
Die obligate Erkundigung nach seinen bevorzugten
Lektüren beantwortet Nabokov mit einer Reihe von eher
unerwarteten Namen: Ronsard, Lafontaine, Senancour und
Flaubert, dazu kommen Shakespeare und Joyce sowie, bei den
Russen, Puschkin, Tolstoi, Tschechow. Als sein höchstes Ziel
und Gut nennt er die Freiheit: «Ich liebe die Freiheit. Das
Einzige, wofür ich bereit wäre zu kämpfen, ist die Freiheit -
die Freiheit, nicht kämpfen zu müssen.» Das Optimum an
Freiheit und Komfort hat Nabokov mit seiner Frau Vera Slonim
in der Schweiz gefunden: «Wir lieben Montreux sehr, seine
Lage, das Spiel der Farben zu allen Jahreszeiten, die Häuser
hoch überm See. Und hier haben doch so viele Schriftsteller
gelebt: Byron, Rousseau, von Casanova nicht zu
reden . . .»
Felix Philipp Ingold