Vladimir Nabokov

NABOKV-L post 0007098, Sat, 16 Nov 2002 09:44:07 -0800

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Review-article of new German printing of Transparent Things & LATH
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EDNOTE This item is good news indeed. The splendid collected works edition being put out by Rowohlt has been "on hold" for some years after issuing about half of the projected 25 (?) volumes. Edited by German Nabokov expert Dieter Zimmer, this beautiful edition contains sumptious annotations and variants. It is a pleasure to see a new volume in the series. Libraries with major Nabokov holdings should own this set for the value of the editorial apparatus alone.
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Samstag, 16. November 2002





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16. November 2002, 02:14, Neue ZĂĽrcher Zeitung


Verhallend im Echoraum
In Vladimir Nabokovs letzten Romanen schwinden die Konturen
Einen Vertrag für fünf weitere Bücher hatte Vladimir Nabokov laufen, als er 1977 in Montreux starb. Der Fragment gebliebene Roman «The Original of Laura» ist seinem Wunsch entsprechend nie veröffentlicht worden. So wurden «Unsichtbare Dinge» und «Sieh doch die Harlekine!», die beiden letzten Romane, die nun als Band 12 der Gesammelten Werke vorliegen, ungewollt zu seinem Vermächtnis - nicht ohne hintergründigen Sinn, wie fast alles bei diesem Jahrhundertautor.


Von Andreas Breitenstein

Ob Vladimir Nabokov die Werke Rainer Maria Rilkes kannte? Es ist wohl anzunehmen bei seiner Belesenheit, aber auch, weil beide in ihren späten Schweizer Jahren gleichsam um die Ecke wohnten - und sei es im Abstand von fünfzig Jahren. Was den einsamen Pathetiker von Schloss Muzot und den zweisamen Ironiker vom Palace-Hotel Montreux bei allen Unterschieden eint, ist nicht nur eine elegische Weltsicht und ein hoch reflektierter Ästhetizismus, sondern auch eine Vorstellung von Leben und Tod, Zeit, Raum und Unendlichkeit, die den abendländischen Dualismus und den christlichen Gottesbegriff sprengt. Rilke feierte den Tod als mythisch-kosmische Erfahrung, als Teil eines allumfassenden «Weltinnenraums», und er wagte sich fast schon über die Grenzen des Vorstellbaren hinaus, als er in der traumwandlerischen zehnten «Duineser Elegie» das Eingehen ins Totenreich als Ineinander von Steigen und Fallen, Glück und Schmerz beschrieb.

Auch Nabokov hat in seinem Schaffen immer neu versucht, die Ränder des Daseins zu erkunden. Die Schmetterlinge waren seine grosse Leidenschaft, doch erscheint diese als Ausdruck eines umfassenden Interesses für die Dinge, die jenseits der alltäglichen Wahrnehmung liegen. Eine eigentliche Geisterkunde lässt sich für Nabokovs Ouvre anfertigen: von der vorweggenommenen Todeserfahrung in «Erinnerung, sprich» über die Eichhörnchen in «Pnin» bis zu den Gespensterszenen in «Das wahre Leben des Sebastian Knight». Mit dem Kurzroman «Durchsichtige Dinge», der nun zusammen mit «Sieh doch die Harlekine!» als zwölfter Band der von Dieter E. Zimmer formidabel edierten und kenntnisreich kommentierten Gesammelten Werke erschienen ist, liegt die erzählerische Durchführung der Idee vor, dass es eine «Demokratie der Geister» gebe und «die Seelen der Toten Komitees bildeten», die sich «in fortlaufenden Sitzungen dem Geschick der Lebenden» (Zitat «Pnin») widmeten.

«Durchsichtige Dinge» ist ein Spätwerk von sphärischer Anmutungsqualität. Gemeinsam nehmen sich interessierte Verstorbene des Antihelden Hugh Person an, seines Zeichens Lektor in einem New Yorker Verlag. Hier nun wird plastisch, was bei Nabokovs Protagonisten oft als Ahnung aufblitzt: dass es jemanden ausserhalb gibt, der den kompletten Überblick hat - ein metaphysischer, aber auch poetologischer Gedanke. So hoch der Autor über seinen Figuren steht, so hoch sitzen die Geister der Toten über den Lebenden. Und wie die Menschen das religiöse Bedürfnis umtreibt, so plagt die Tintenwesen die Frage, wer es denn sei, der - den Plot ihres Lebens arrangierend - Macht über sie ausübt. Nabokov lässt seine Figuren gern die richtige Spur aufnehmen und macht sich dann einen Spass daraus, wenn sie sich beim Versuch, das ganz Andere zu denken, den Kopf am Papier einrennen.

TOTENPALAVER
Freilich muss man erst darauf kommen, dass es sich bei «Durchsichtige Dinge» um ein Totenpalaver handelt. So bleibt die Erzählinstanz lange Zeit ungeklärt, während die durchaus handfeste Handlung immer wieder von obskur anmutenden Statements philosophischer Art zerschnitten wird, ohne dass sich zwischen den beiden ein Bezug herstellen liesse. Das Rätsel löst sich auf, wenn man die Sätze als detaillierte Selbstaussagen der Geister über ihre Existenzform begreift. Es war Nabokov selbst, der seinen Lesern in Interviews auf die Sprünge helfen musste, nachdem der Roman 1972 selbst bei einem Kenner und Bewunderer wie John Updike auf Unverständnis gestossen war. Als zentraler Erzähler stellt sich der tote Schriftsteller «Mr. R.» heraus, zu dessen Betreuung Hugh Person in die Schweiz gereist war und der ein Jahr vor ihm an Leberkrebs starb.

Hugh Person, der Name sagt es deutlich, ist - ganz im Gegensatz zum Superhelden Van Veen des opulenten Vorgängerromans «Ada» - ein Mensch, dem sein Leben chronisch misslingt und der in seiner Tollpatschigkeit an eine Woody- Allen-Figur erinnert, etwa wenn er, ohne es zu ahnen, die Geliebte von Mr. R. in derselben Junggesellenwohnung zu verführen sucht, in der diese bereits das Vergnügen hatte mit einem, der mittlerweile im Krieg gefallen ist - und noch immer stehen dessen Möbel herum. Vier Reisen Persons in die Westschweiz werden in der Rückblende fassbar: 1950 stirbt dem Studenten der Vater beim Anprobieren einer Hose in einem Kleidergeschäft an einem Herzinfarkt weg; 1964 reist der Lektor im Auftrag des Verlags in den Gebirgsort Witt, um den exzentrisch-zynischen Grossschriftsteller Mr. R. zu treffen und zum Abschluss seines nächsten Romans zu bewegen, wobei er im Zug die schöne, aber kühle Armande Chamar kennen lernt, die er nach aufopferungsreichem Werben (bis zur Selbstentblössung beim Skisport) heiratet; 1965 kommt es erneut zu einem Treffen mit Mr. R. - einen Monat später erdrosselt Person in Trance seine schlafende Frau, was ihm sieben Jahre Gefängnis und psychiatrische Klinik einträgt; 1972 kehrt Hugh Person, 40-jährig, auf den Spuren seiner verlorenen Liebe zurück nach Witt ins Hotel Ascot, wo er bei einem nächtlichen Brand durch eine Rauchvergiftung umkommt.

Mehr als nur ein Hauch von Morbidität liegt über dem Buch, nachgerade drängt sich der «Unrat des Lebens» apokalyptisch ins Bild: Tote gibt es - meist beiläufig erwähnt - zuhauf, Feuersbrünste und Unfälle sind der Normalfall. Die mondäne Welt der Hotels und Kurorte, in die Person am Ende zurückkehrt, scheint dem Verfall preisgegeben. Vom plötzlichen Altern des verwitweten Vaters fühlt sich Person angeekelt, und dessen Tod trägt groteske Züge. Nicht nur lässt Person die Leiche sogleich einäschern, um sich «des grässlichen Gegenstands (. . .) zu entledigen», seine neue Freiheit erprobt der in Liebesdingen ebenso Unbedarfte wie Unberührte, indem er in Genf die erstbeste Prostituierte aufsucht. Kommt dazu, dass er an Somnambulismus und «Traumängsten» leidet, die an Irrsinn grenzen. Person, dem «ein besonderes Talent und ein besonderer Ehrgeiz» abgehen, richtet sich nach ein paar kläglichen Anwandlungen von Kreativität in seiner Mittelmässigkeit ein. Früh «mürrisch» geworden, ist er als Lektor zunächst ein «grämlicher Sklave», der das Kreuz trägt, die Logorrhöe und den sexuellen Appetit der exaltierten Mrs. Flankard («Das Mannsbild») zu zähmen. Sodann hat er auch mit dem deutschstämmigen Mister R. und seinem duftigen Englisch (eine Selbstparodie Nabokovs) nicht gerade das grosse literarische Los gezogen, doch verbirgt sich hinter dessen Narzissmus und Grosskotzigkeit immerhin ein Künstler. Glücklos bleibt schliesslich auch Persons Leidenschaft für Armande Chamar, beisst er doch regelmässig auf den Stein ihres «Granitherzens» oder scheitert an ihren «sexuellen Wunderlichkeiten». Seine Liebe zur «Unliebbaren» ist lächerlich und fatal zugleich: Der Mord ist zwar eine Entgleisung, aber zugleich Ausdruck der tiefen Kränkung eines zum treuherzigen Scheitern Verdammten.

«Durchsichtige Dinge» sind vieles: eine metaphysische Spekulation, ein Gespensterballett, die Tragikomödie eines Durchschnittsamerikaners, eine Satire auf den Literaturbetrieb, eine Abrechnung mit allem neuen Reichtum und halbintellektuellen Snobismus, eine Selbstparodie des Verfassers und nicht zuletzt eine (etwas spröde) Hommage an die Westschweiz, in deren ironisch fiktionalisiertem Raum das Buch angesiedelt ist - nicht zuletzt, weil es in Montreux und Saas Fee, Gstaad und Saanen entstand. Der poetische Reichtum des kurzen Textes ist, wie fast immer bei Nabokov, frappierend. Dicht ist das System von Verweisungszusammenhängen, gross sind die Register, die der Autor stilistisch zu ziehen vermag. Der Text sprüht vor Bildern und Ideen und schillert in den unterschiedlichsten Farben der Ironie. Anschauung und Reflexion halten sich die Waage, wie denn auch der Diskurs der Geister zwischen Amüsement und Mitgefühl, Scherz und Tiefsinn vibriert. Der Panik wiederum, die dieses Endspiel durchzieht, steht die Heiterkeit des Todes entgegen. Die Geisterexistenz, so die Verheissung, bietet in quasi radiologischer Schau die reine Ästhetik der Existenz: Die Welt ist transparent geworden, und nur die Zukunft bleibt verschlossen, weil es sonst keine menschliche Freiheit und damit keine Bedeutung geben würde.

Es ist eben diese Würde, die Nabokov in seinem letzten, 1974 fertiggestellten Roman hochartistisch verteidigt - und zwar gegen den zunächst begrüssten und geförderten, dann aber bitter gehassten Biographen Andrew Field, dessen Fehlleistungen ihm nach 1970 die späten Jahre vergällten. «Sieh doch die Harlekine!» ist die Parodie einer Autobiographie und in der radikalen Freiheit im Umgang mit dem eigenen Lebensstoff Nabokovs Antwort auf den «Biograffitischmierer» Field, der nicht nur schlampig mit Fakten umging und auf Skandal aus war, sondern auch noch den manieristischen Stil des Meisters imitierte. Dass solches ausgerechnet Nabokov widerfuhr, entbehrt nicht der Ironie, hatte dieser die Unmöglichkeit, Kunst und Leben kurzzuschliessen, doch bereits 1939 im Roman «Das wahre Leben des Sebastian Knight» thematisiert: Ein Erzähler nimmt seinen toten Bruder, einen Schriftsteller, gegen die Entstellungen eines unfähigen Biographen in Schutz. Nabokov selber hielt auf Diskretion und betonte seine Abscheu, «in den kostbaren Lebensgeschichten grosser Schriftsteller herumzustochern. (. . .) Der voyeuristische Blick in diese Leben ist mir zuwider - ich hasse die Vulgarität des human interest, ich hasse das Röckerascheln und das Gekicher in den Korridoren der Zeit.» Gerade er, der seine Texte in allernächster Nähe zu seiner Person ansiedelte, musste auf den Sinn für den Kunstcharakter von Literatur in erhöhtem Masse Wert legen.

So ist «Sieh doch die Harlekine!» zunächst einmal ein selbstparodistisches Verwirrspiel, in dem sich Nabokov gleichermassen über den Voyeurismus von Biographen und Lesern lustig macht, indem er ihnen gibt, wonach sie verlangen - nur dass es in vielem ein Negativbild ist (in dessen Art der Verfremdung selbstredend wiederum manche Wahrheit aufscheint). Die Pseudobiographie des Schriftstellers Vadim Voinovitch N. ist eine einzige verbergende Selbstentblössung. Was geeignet ist, den naiven Leser zu verwirren, ist für den Nabokov-Kenner ein Eldorado, kann er sich doch nicht nur im Biographiequiz bewähren, sondern im Schnelldurchgang seine Lektüren auffrischen. Die Selbstreferenzialität, die Nabokovs Schreiben ohnehin charakterisiert, erscheint hier auf die Spitze getrieben. Wenn nicht die Summe seines Schaffens, so ist «Sieh doch die Harlekine!» doch ein empfindungsgenaues Schlussfeuerwerk, das als Fanal des heiligen Unernsts nicht schlecht ans Ende seines Lebens passt.

PARALLELEN UND UMKEHRUNGEN
Mit Vladimir Nabokov teilt Vadim die Initialen, das Geburtsjahr 1899, die Flucht aus Russland vor den Bolschewiki, das Studium in Cambridge, die karge Pariser Zeit in der russischen Exilantenszene, die Berufung an ein Provinzcollege in den USA, den späten Ruhm und Reichtum durch einen Roman über ein «Nymphchen», die Heimkehr nach Europa, das Glück der späten Lebensjahre in der Schweiz. Darüber hinaus erinnern Vadims Romane in Titel und Inhalt («Bauer schlägt Dame», «Camera lucinda», «Dr. Olga Repnin», «Ardis» usw.) an Nabokovs Werke. Doch da gibt es auch die blanken Umkehrungen: Wo der junge Nabokov liebte und geliebt wurde, kannte Vadim seine (verkommenen) Eltern kaum. Statt eine paradiesische Kindheit erlebte Vadim die Hölle, weshalb ihn auch nicht die Erinnerung trägt und ihm der Wille zur Suche nach der verlorenen Zeit abgeht. Ungern, ungenau und unzusammenhängend gibt er seine frühen Jahre preis, wobei er zwischen Phantasie und Realität nicht streng scheidet. Er trägt damit dem Rat Rechnung, den ihm die Grosstante einst mit auf den Weg gegeben hat / haben soll: «Hör auf, Trübsal zu blasen! (. . .) Sie doch die Harlekine. (. . .) Rings um dich herum. Bäume sind Harlekine, Wörter sind Harlekine. Situationen und Summen sind's. (. . .) Los doch! Spiel! Erfinde die Welt! Erfinde die Wirklichkeit!»

Vadim führt nicht nur ein Leben am Rande der Melancholie, sondern auch des geistigen Zusammenbruchs - angesichts seiner «Probleme mit der räumlichen wie zeitlichen Unendlichkeit, der Grenzenlosigkeit, der Ewigkeit und der eigenen Identität». Als Spitze des Eisbergs ragt seine (eigentlich harmlos anmutende und doch vor jedem Heiratsantrag theatralisch offenbarte) Unfähigkeit heraus, sich in Gedanken die Körperdrehung vorstellen zu können. Schon als Kind war Vadim in psychiatrischen Kliniken, und am Ende des Romans wird er wohl - «das Ich im Buch stirbt nich im Buch» - an den Folgen eines «grossen Anfalls» sterben, und dies, obwohl er sich erlöst glaubt, nachdem seine letzte Frau («Du») den gordischen Knoten im Kopf löste, als sie ihn darauf aufmerksam machte, dass er «Richtung mit Dauer» verwechsle: «Er redet von Raum, meint aber Zeit. (. . .) Zeit ist nicht umkehrbar.»

Neben den Frauen ist es das Schreiben, das Vadim vor Depression und Wahn schützt, der ihn indes auch von einer anderen Seite bedroht - vermutet er in hellen Momenten doch nicht zu Unrecht, in seinen literarischen Bemühungen nur der lächerliche Epigone eines weit «grösseren, gesünderen und grausameren» Autors zu sein, den er nie kennen lernt, mit dem er aber mitunter verwechselt wird. Als «McNab» oder «Vivian» wird er etwa angesprochen, doch kann sich Vadim nicht mehr seines Nachnamens entsinnen, als er nach Wiedererlangung seines Bewusstseins seine Memoiren niederschreibt. Noch in den Phantasien der Befreiung bleibt er dem fernen Schöpfer hörig, darf er doch nur dessen ureigene Obsessionen durchbuchstabieren: «Sollte ich meine Kunst aufgeben, eine andere Karriere einschlagen, mich ernsthaft dem Schachspiel zuwenden oder, sagen wir mal, Schmetterlingskundler werden, oder ein Dutzend Jahre daran setzen, als obskurer Gelehrter eine russische Übersetzung von Paradise Lost anzufertigen . . .?» Ein grausames Spiel spielt Nabokov mit seiner Figur: Wo Vadim sich auf das Eigene besinnt, bleibt er Parodie, und wo er sich freizustrampeln meint, zappelt er im Netz verborgener Bezüge. Aus diesem Spiegelkabinett ist kein Entrinnen.

Die Konturen verschwimmen in diesem tragikomischen Roman, doch man darf sich als Leser nicht abschrecken lassen. Der Ich-Erzähler lässt die Handlung zügig voranschreiten, wobei sich drei zentrale Momente herauskristallisieren, die sich durchdringen: Vadims Beziehung zu den diversen Frauen und Geliebten, seine literarische Karriere und der ihn ständig anfechtende Irrsinn. Ob seine Musen Iris, Annette, Bel oder Louise heissen - um nur die wichtigsten zu nennen: Dass sie eine Funktion seines (Überlebens-)Werks bleiben, ist das Unglück der Frauen um Vadim, aber auch sein Pech. Nicht zufällig geht ihnen der Sinn für Poesie ab. Erst im namenlos bleibenden «Du», das ihn in seiner Kunst und in seinem Leiden versteht und ihm in die Alte Welt folgt, findet Vadim die Erlösung, die er sich von der Liebe immer erhoffte und doch nur in der Flüchtigkeit des Sexes fand. «Sieh doch die Harlekine!» ist nicht zuletzt ein turbulenter erotischer Roman: Die jungen Russinnen, die sich in Paris zur Reinschrift der Manuskripte einfinden, werden reihenweise schwach; Annette Blagovo, die Vadim in die USA folgt, ist eine von ihnen. Nachdem sie ihm die Tochter Bel geboren hat, gibt sie ihm für die Affäre mit Dolly den Laufpass. Der reizende Teenager kehrt zu Vadim zurück, nachdem ein Tornado Annette aus dem Weg geräumt hat, worauf dieser zum Selbstschutz die junge Professorenwitwe Louise heiratet. Dadurch aber verscherzt er es mit Bel, die sich nach ihrer Internatszeit in der Westschweiz mit einem revolutionär gesinnten Amerikaner in die Sowjetunion absetzt, wo sie für den Vater trotz einer Reise nach Leningrad unauffindbar bleibt. Nur in ihrer Schulfreundin «Du» wird Bel in Vadims Leben anwesend bleiben.

LUST - UND WEHMUT
Dieses eine Beispiel mag den Montagecharakter des Romans verdeutlichen: Vadim - das ist eine Mischung aus dem Negativ-Ich von «Erinnerung, sprich», aus Humbert Humbert («Lolita»), aus Van Veen («Ada») und anderen. Die übrigen Figuren sind kaum weniger Spiegelungen des Werkes. Und wie Nabokov das altgediente Personal wieder aufs Karussell setzt, so dekliniert er auch die Stilarten des Erzählens nochmals durch. Die Lust des alten Mannes an der eigenen Vitalität drückt sich hier aus, vielleicht aber auch eine Wehmut über das Schwinden der Zukunft. Für diesen Kraftakt nimmt er auch gewichtige logische Inkonsistenzen in Kauf - etwa die, ob ein dermassen erinnerungsarmer, fahriger und konturloser Mensch wie Vadim überhaupt zum Schriftsteller und Autobiographen taugen kann, der obendrein noch sehr erfolgreich ist.

Was bleibt, ist Trost. Nabokov war nicht ganz unvorbereitet, als seine Nacht fiel: «Identitätsprobleme sind, wo nicht gelöst, so doch wenigstens in Angriff genommen worden», schrieb er am Ende der «Harlekine»: «Künstlerische Einblicke wurden gewährt. Mir war gestattet, meine Palette in sehr abgelegene Regionen zwielichtigen und zweifelhaften Seins mitzunehmen.» Vielleicht ist es ja wirklich so, dass wir Lebendigen alle den Fehler machen, dass wir zu stark unterscheiden.

Vladimir Nabokov: Durchsichtige Dinge. Roman. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. - Sieh doch die Harlekine! Aus dem Englischen von Uwe Friesel. In: Gesammelte Werke, Band XII: Späte Romane. Herausgegeben von Dieter E. Zimmer. Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002. 547 S., Fr. 47.10.






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